Blick zurück nach vorn

Hört mich an, Ihr Menschenbrüder.
Das alte Jahr wird immer müder,
das neue ist schon fast zu sehn.
Zeit, sich noch mal umzudrehn,

in des Jahres Abendrot,
und zwar schneller als Frau Lot.
Kurzer Schulterblick zurück:
Wo war Schaden, wo war Glück?

Hab nen Apfelbaum gepflanzt,
Tante Hildes Grab betanzt,
dreizehn Kinder nicht gezeugt,
manchen Endreim hingebeugt.

Viel gesehn, die Welt bereist,
einen Tintenfisch verspeist.
Ozelot und Hammerhai
waren, glaub ich, auch dabei.

Literarisch mich erweitert,
am Ulysses knapp gescheitert.
Allem Neuen gab ich Raum,
nichts kapiert von Zettel’s Traum.

Viermal Rauchen abgewöhnt.
Unter Lust und Last gestöhnt.
Schäferstündchen knapp versäumt.
Nachbarn Schnee vors Haus geräumt.

Tacheles und Quatsch geredet.
Gutes Leben nachgeschwedet.
Unerhebliches war wichtig –
gibt ja eh im Falsch kein Richtig.

In der Zeit zwischen den Jahren,
wenn die Blicke rückwärts fahren,
weiß ich nie ganz, wo ich bin –
am Ende oder Neubeginn?

Und so wohnt in diesem Sinne
jedem Schluss ein Zauber inne.

Gott grüß die Kunst

Es gab ja auch Zeiten, in denen ich was Richtiges gearbeitet habe. Mitte der Achtziger zum Beispiel war ich Aushilfe in der Zeitungsmontage des Lokalblättchens. Damals klebte man die Seiten noch aus Papier zusammen, wir mussten also den ganzen Tag lang schneiden, kleben, montieren und wieder schneiden, kleben und – Bier trinken. Aus liebgewonnener Tradition wurde von den beteiligten Schriftsetzern damals dermaßen viel getrunken, dass wir nach einer besonders gelungenen Tagesschicht dem launigsten Kollegen mit dem dicksten Tesafilmballen am Bart und den meisten Messerverletzungen an den Fingerspitzen gern schon mal bestätigten, er arbeite heut aber mal wieder in der Form seiner Leber.

Rückblick 01

Was mir das Tollste war im Jahr?
Der wirklich superheisse Scheiß?
Kein Jauch erzählte, was es war,
kein Lanz gab es im Fernsehn preis,

in keinem Rückblick wars zu sehn.
Und doch: Es war von höchster Klasse.
Begann als Teilchenphänomen
und endete in schwüler Masse.

Im Sommer wars, in Genf am CERN,
da sausten Teilchen ineinander.
Beschleunigt krachten sie sehr gern
zusammen, nach- und miteinander.

Es machte Rumms! Die Welt erschrak.
Ein neues Teilchen flog beiseit,
sprach augenzwinkernd „Guten Tag!“,
verschwand mit Lichtgeschwindigkeit.

Kaum da, wars auch schon wieder fort.
Ein Jubel war in den Laboren.
Denn in dem Schweizer Keller dort
war uns das Higgs-Teilchen geboren.

Das Higgs schafft auf der ganzen Welt
die Masse, das Gewicht, die Schwere.
Und weil es uns all das erhält,
heißt’s Gottesteilchen – welche Ehre!

Das schlug im Papst ein wie ein Pfeil!
Im Vatikan war Angst und Bang:
So kurz ist also Gottes Teil?
Es ist nur einen Bruchteil lang?

Des Schöpfers Ding klein wie Atom?
Das hatte man sich in der Welt
der religiösen Herrn in Rom
doch etwas größer vorgestellt.

Dies war das Tollste mir im Jahr:
Dass Gott uns kurz sein Teil gezeigt,
dass Weihnacht schon im Sommer war,
dass voller Grimm der Papst still schweigt.

Die Kirche streitet es zwar ab,
doch alle wissen nun Bescheid.
Gott schaut mit Angst an sich herab:
Wissenschaft schafft Penisneid.