Er ist ein alter Mann und die Filzpantoffeln sind die Filzpantoffeln eines alten Mannes. Er ist vielleicht nur kurz mal an die frische Luft. Kein Grund, extra die Schuhe anzuziehen. Seine Tochter schiebt ihn an Geschäften vorbei und der Rollstuhl ist ein veraltetes, kantig überdimensionisertes Modell.
Der Mann sitzt ruhig da, die Arme angewinkelt, die Hände treffen sich vor seiner Brust. Seine Frau geht hinter seiner Tochter her, die seinen Rollstuhl schiebt. Die Tür der Eisdiele stoppt alle drei. Der Rollstuhl gibt beim Schieben kein Geräusch von sich und eigentlich ist es so, daß die kleine Familie unvermittelt vor der Tür zur Eisdiele erscheint.
Die Füße des Mannes stecken in den grauen Filzpantoffeln, und was er nicht sehen kann: Hinter ihm geht ein schönes Mädchen vorbei. Das Mädchen trägt ein Baby auf dem Arm und bemerkt den Mann in seinem Rollstuhl gar nicht. Sie trägt das Baby so einfach wie man ein Baby tragen kann. Im Arm. Nicht in einem Tuch oder sonstwie. Das Mädchen habe ich schon oft gesehen hier. Es ist ein schönes, junges Mädchen. Vor ein paar Monaten noch war es ein kleines unschuldiges Mädchen mit einem schönen Hals, der ausrief: „Holla, aufgepaßt! Hergesehen! Trage ich doch einen schönen jungen Kopf auf mir!“ Und nun trägt dieses Mädchen dieses Baby durch die Fußgängerzone und bemerkt nicht den alten Mann, dessen Füße frisch gewaschen vielleicht in seinen Filzpantoffeln stecken, die er so gern trägt, wenn er sich wohlfühlt.
Das ist nicht wirklich traurig, daß ihn das Mädchen nicht bemerkt und er bemerkt das Mädchen nicht hinter ihm mit dem Baby auf dem Arm. Wirklich traurig ist, dass seine Tochter ihm von ihrem Eis mit einem kleinen Löffel etwas abgibt. Sie schleckt an der Eiskugel, die sie für sich gekauft hat, und sieht sich die Vorübergehenden an. Ab und zu schabt sie mit dem kleinen Löffelchen aus Plastik etwas Eis ab und hält ihn in die Nähe des Gesichts ihres Vaters. Sie schaut dabei nicht genau hin. Sie läßt ihre Blicke über die Passanten streifen. Sie hält ihm das Eis einfach vor den Mund und der alte Mann öffnet den Mund und schaut auf den kleinen Löffel mit dem abgeschabten Eis knapp neben seinem Mund und er kann seinen Kopf nicht bewegen, während seine Füße in grauen Filzpantoffeln warm verpackt sind.
Der alte Kritikaster
Heute: Arthur C. Clarke, Bertolt Brecht, Tibor R.
Thomas Mann zu Arthur Clarke:
»Mensch, Du schreibst vielleicht ’n Quark!«
Clarke sah ihn sehr lange an.
»Danke für die Wahrheit, Mann!«
Thomas Mann zu Bertolt Brecht:
»Was Sie schreiben: Alles schlecht!
Was ich auch von Ihnen lese,
hier: Dreigroschenoper – Käse!
Dort Ihr Baal – ich bitte Sie!!
Die Gedichte? Feuchtes Knie!!!
Was Sie von den Weibern schreiben,
lassen Sie von nun an bleiben.
Wen soll Ihr Herr K bescheißen?
Was soll das hier bitte heißen:
An die Nachgeborenen? Ich kann
es nicht mehr lesen, Mann!«
Thomas Mann zu Tibor R.:
»Was Sie schreiben, werter Herr,
ist hingegen wohlgebaut.
Selten noch hab ich verdaut
Worte, die mir wohlgefügter,
Sätze, die mich je vergnügter
auf die Knie sinken ließen.
Diesen Umstand zu begießen
reise ich am Dienstag an.
Stell’n Sie Sekt kalt. Thomas Mann.«
Shortcuts – Zug
Der Junge, der viel zu weich ist für seine zur Schau getragene Härte, so wie der junge Held in diesem französischen Film, der das nicht hören will, wenn er gesagt kriegt, es gebe immer einen Grund für einen neuen Anfang, und jetzt fragt er mich nach einem Stift, er sieht doch, dass ich damit arbeite und ich sage: Aber nur kurz, ich muß das hier aufschreiben.
Der dicke Mann, die Halbglatze, der breite Krawattenknoten, die schwere Uhr, der Atem. Er schläft, er meditiert, mit dem Daumen am Zeigenfinger, er schielt hinüber, den Kopf nach hinten ans Polster gelehnt, zu der jungen Frau, er atmet: schwer, tief, allein.
Der Student, übriggeblieben aus den Siebzigern vielleicht, der aussieht, ein wenig, wie Ulrich Roski, und der der mit ihm aussteigenden Frau einen versierten und detailreichen und nicht enden wollenden und ausschmückenden und treffenden und richtigen und vollständigen Vortrag hält über Bahnverbindungen und Anschlüsse und den neuen Fahrplan und die Preise und Tarifgebiete, die hineinreichen, ineinander und nebeneinander, wie die Waben, und das alles nur, um ihr zu sagen, das sich auf ihrer Strecke sowieso nichts ändert und da bleibt alles wie immer, und der beim Aufstehen sagt: Tschüssi dann, und sie sagt nix.
aus „Ritter der Gicht“
“Wenn du nicht wirst, was Du warst – werde, was Du wurst … oder jedenfalls so ähnlich irgendwie.“
Caulo Quappoelho
Blitz 01 aus einer Leidener Flasche
Kindliche Wundermärchen über Wandeln auf dem Wasser und Wiederauferstehung eines Toten werden umso eher als Wunder geglaubt je weniger die eigene Bildung dazu befähigt, die tatsächlichen Wunder des Mikrokosmos des Universums und der unendlich komplizierten Systeme des Lebens auch nur annähernd als solche wahrzunehmen. Was hilft alle Aufklärung, alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen.
In Restaurationen #05
Aus dem Reise-Abfalleimer
Da ist ein Mann im Bordrestaurant mit gleich zwei Laptops.
Amsterdam ist eine schöne Stadt. Menschen rollen Käse zum Bahnhof, kantapperkantapper. Weiter nach Brüssel? Oder lieber Richtung Rotterdam?
Lille ist eine schöne Stadt. Der Sonnenaufgang wirkt viel sanfter als in Rouen. Monet hatte Unrecht.
Schlafen in Lille ist wie Pommes frites.
Zugluft ist das gefährlichste, was es gibt. Momentan: Toulouse >> Marseille, TGV
Baguettes in der Brasserie verlangen – das kann auch nur mir passieren, o la la!
Ein Mann sieht aus, als trage er eine Staubsaugertüte (wie ist das französische Wort dafür?) auf dem Kopf.
Gaudi hatte Recht: Die Tränen der Spanier sind der Winter Europas.
Hinterm Tejo liegt Afrika. Junge Frauen warten auf Besuch von jungen Männern.
Der Kaptiän auf dem Traumschiff sieht nicht aus wie Heinz Weiss. Der junge Mann auf dem Vorderdeck aber auch nicht wie Leonardo DiCaprio. Im Morgengrauen Richtung Norden.
Salz auf meiner Haut. Hinkelsteine sind kleine Punkte auf einer Wiese am Horizont.
Kennt sich jemand in Südengland aus? Wenn Orangenmarmeladetoast runterfällt, kann er auf die Orangenmarmeladenseite fallen – muss aber nicht.
Das Monster ist nur eines aus der Ferne. Wenn man es von nahem betrachtet, wirkt es eher wie eines der Corgi-Hündchen von QE2.
Dem Kater frühmorgens die Liebe deutend
Schau mich nicht an mit diesem Blick! Grade ihr Katzen
solltet doch wissen, wie es ist, sich zu verlieben:
Wie man beim Wein sitzt bis früh morgens kurz nach sieben,
wie man verquere Dinge lallt in tief verguckte Fratzen.
Grade Ihr Katzen solltet wissen, wie das ist:
Auf Dachterassen schwerst verliebt zu sitzen.
Und dass das geht: beim kleinsten Rascheln und Berühren schwitzen,
weil man es als Beweis nimmt für: Es ist das, was es ist.
Wer, wenn nicht ihr, ihr Löwen, Jaguar und Tiger,
weiß besser was das soll: versinken in dem andern
mit Krallen und mit Zähnen – wie beim Seelenwandern.
Schön sanft sein und trotzdem ein Krieger.
Du putzt den Bart und tust, als ob Du garnichts willst:
Ein Nacht-Genießer schweigt, sitzt da mit einem Schnurren.
Das tu ich auch jetzt – gern und ohne Murren
geh ich ins Bett und bin mucksmäuschenstillst.
Aus den Reisefotografien
Mit 14
(zum Geburtstag)
Mit 14 muss man nicht mehr lang auf 15 warten.
Mit 14 ist man engel- oder ekelhaft.
Mit 14 gehört man zu den arg bedrohten Arten.
Mit 14 wird man auch schon vom Gesetz bestraft.
Mit 14 pflegt man seine Eigenarten
noch stärker als mit 13 oder 12.
Mit 14 erscheint einem ein Birnengarten
nicht mehr so seltsam wie mit 11.
Mit 14 geht die Sonne morgens auf.
Mit 14 geht sie abends wieder unter.
Mit 14 bläst das Leben sich schon auf.
Mit 14 ordnet man die Welt sich unter.
Mit 14 kann man vieles schon viel besser.
Und manches richtig. Und den Rest ok.
Mit 14 schnappt man auf wie ein Schnappmesser
und vieles tut schon nicht mehr ganz so weh.
Mit 14 ist man keineswegs mehr mittel.
Mit 14 quatscht man Heißluft wie ein Fön.
Mit 14 ist man von Vier-Zwei ein Drittel.
Mit 14 ist man groß und stark und schön.
Mit 14 macht man nur noch gute Taten.
Bei all den schlechten war man ja noch klein.
Mit 14 hat man supertolle Karten.
Und es erstrahlt das ganze große Sein.
Mit 14 muss man nicht mehr auf die Eltern warten.
Mit 14 fängt ein neuer Teil des Lebens an.
Mit 14 muss man sehr nett sein zu Paten.
Mit 14 fühlt man sich wie Watte an.